«Das Gesetz aber ist hinzugekommen, damit der Fall noch grösser werde; wo aber die Sünde grösser wurde, da strömte die Gnade umso reichlicher» (Römer 5,20).
Eine Studie über die «Psychologie der Religion» untersucht, welche Einstellung Studierende verschiedener Religionen dem Alkohol gegenüber haben. Sie stellt fest, dass Studierende jüdischen Glaubens eine extrem tiefe Alkoholikerrate aufweisen, obwohl es unter ihnen nur vereinzelt Abstinzler gibt. Studierende aus christlichen Donomiantionen mit einer starken Abneigung gegen Alkoholkonsum sind jedoch am häufigsten betrunken. Fazit der Studie: Der Alkohol übt die grösste Anziehungskraft auf die Leute aus, die ihm gegenüber die negativste Einstellung haben. Verallgemeinernd ausgedrückt heisst das: Das Verbotene reizt uns am meisten – oder wie es Paulus beschreibt: «Die Sünde gebrauchte das Verbot, um in mir alle möglichen Begierden zu wecken» (Römer 7,8).
Radikale Sünde
Gott stellte die ersten Menschen in eine perfekte Umgebung mit Millionen erlaubter Optionen und nur einem einzigen Verbot. Im Vergleich zu unserer Gesellschaft mit ihren abertausenden von Gesetzen und Vorschriften war das tatsächlich ein paradiesischer Zustand! Doch der Mensch liess sich nicht einmal eine einzige Einschränkung gefallen. In seiner Gier nach der totalen Autonomie gab es für ihn deshalb nur eine Variante: Das Verbot musste übertreten werden. Entsprechend radikal war der Fall aus der behüteten Gemeinschaft mit Gott. Seither steht über allen Menschen das vernichtende Verdikt: «Da ist kein Gerechter, auch nicht einer, da ist keiner, der Verstand hätte, da ist keiner, der Gott suchte» (Römer 3,10–11). Dieses Bewusstsein liess vor 500 Jahren Martin Luther am Leben verzweifeln. Im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen versuchte er sein Verhältnis zu Gott nicht zu beschönigen, indem er Sünde kleinredete. Er wusste: Wie sehr ich mich auch anstrenge, ich genüge nicht. Die Frage, die ihm keine Ruhe liess, lautete deshalb: Wie finde ich einen gnädigen Gott?
Radikale Gnade
Luther fand die Antwort in der Bibel und verstand: Die Sünde ist zwar mächtig, aber Gottes Gnade viel mächtiger. Gott spricht uns frei und erklärt uns für gerecht, weil Christus an unserer Stelle dem Vater den geforderten Gehorsam geleistet und die Strafe für unseren Ungehorsam bezahlt hat. «Da fühlte ich mich wie neu geboren, als sei ich geradewegs durch geöffnete Tore in das Paradies eingetreten», beschreibt Luther die Wiederentdeckung dieser alten Wahrheit. «Gnade allein» (lat. sola gratia) prägte von da an alle seine Predigten und Schriften. Weil Luther verstanden hatte, wie radikal unsere Sünde die Gottesbeziehung zerstört, stand für ihn ausser Frage, dass der gesamte Rettungsprozess Gottes unter der Gnade stehen muss. Heute wie damals wird die Sünde trivialisiert, was die Gnade zu einer leeren Phrase macht, mit der Menschen nichts mehr anzufangen wissen. Im Mittelpunkt steht folglich nicht die Gnade, sondern die Aktivität des Menschen, der sich masslos selbst überschätzt. Doch Luther lässt noch nicht einmal die viel gerühmte «Entscheidung für Gott» als Werk des Menschen stehen. Für ihn ist klar: Wenn Gott sich nicht zuerst für mich entscheidet, entscheide ich mich nie für Gott. Gnade schliesst für Luther wie für Paulus jedes Selbstrühmen aus. Wenn es etwas zu rühmen gibt, dann allein Gottes Gnade.