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VERLIEBT IN ANSEHEN UND TITEL

«Ihr aber sollt euch nicht Rabbi nennen lassen, denn einer ist euer Meister, ihr alle aber seid Brüder» (Matthäus 23,8).

In den 50er und 60er Jahren leitete Frau Dr. Getrud Wasserzug als Direktorin unserer Schule. Von den Studierenden wünschte sie «Frau Doktor» genannt zu werden. So auch im Dorf von der ansässigen Bevölkerung. Da kursiert die Anekdote, dass sie während eines Telefongesprächs mit einem örtlichen Handwerker lediglich mit «Frau Wasserzug» angesprochen wurde. Sie korrigierte ihn höflich: «Doktor Wasserzug, bitte!» Unbeeindruckt erwiderte er: «Ja, Frau Wasserzug». Sie wurde heftig und protestierte: «Doktor Wasserzug!» «Ja, Frau Wasserzug!» meldete sich die Stimme am anderen Ende der Leitung in der gewohnten Bierruhe eines Berner Oberländers. 

Diese Episode ist bis heute im kollektiven Gedächtnis der Dorfbevölkerung verankert. Daher gehe ich davon aus, dass sie den Ruf unserer Schule als christliche Institution damit nicht unbedingt gefördert hat. Die missionarischen Märsche mit Plakaten durch das beschauliche Bergdorf haben daran wenig geändert.

Unser Streben nach Ansehen und Status

Jesus warnt seine Nachfolger davor, die Praktiken der damaligen geistlichen Elite zu imitieren. Diese eiferten mit äusserer Frömmigkeit, gesellschaftlichen Ehrenplätzen und Titeln nach menschlicher Ehre und Belohnung. Heutzutage beindruckt es niemanden, wenn man seinen Glauben durch eine andächtige Miene, frömmelndes Vokabular und regelmässigen Kirchbesuch zur Schau stellt. Im Gegenteil. Pfarrer, Pastor oder Priester sind längst keine Ehrentitel mehr, sondern mutierten in den letzten Jahren mehr oder weniger zu Schimpfwörtern. Wenn die Kirchenleute des 21. Jahrhunderts ihren Status und ihr Prestige aufpolieren wollen, bleibt ihnen nur das Streben nach akademischen Titeln. Die begehrten Titel zur Zeit von Jesus waren «Rabbi» (wörtlich «mein Grosser»), «Vater» und «Lehrer». Alle drei bezogen sich im Judentum auf Personen, die das Gesetz erklärten. Jesus verbietet Berufsbezeichnungen, Titel oder Bildungsgrade nicht grundsätzlich, was daran zu ersehen ist, dass wir in den neutestamentlichen Texten sehr wohl Lehrer finden (Apg 13,1; 1Tim 2,7; Hebr 5,12; Eph 4,11; 1Kor 12,28-29). Es ist auch völlig in Ordnung, wenn geistliche Vorbilder als Väter angesprochen werden (1 Kor 4,15; Gal 4,19; Phil, 2,22; Phlm 10; 1Tim 1,2). Jesus warnt aber davor, solche Titel zu verwenden, um sich mit Privilegien, Ehre oder Status auszustatten. 

Von Gott anerkannt zu sein ist alles, was zählt

Es gibt mittlerweile eine Flut von promovierten Theologen, die als Versicherungsverkäufer, Gastronomen oder Taxifahrer tätig sind. Klaus Berger, der 2020 verstorbene Heidelberger Professor für Neues Testament, spottete, dass man sich in Heidelberg mit Taxifahrern auf Altgriechisch unterhalten könne! Da diese für eine solche Tätigkeit sicherlich keine Promotion vorweisen müssen, liegt der Verdacht nahe, dass sie ihre Dissertation lediglich aus Prestigegründen verfasst haben. Die Titelflut unter Theologen führt bei manchen Christen zur irrigen Meinung, dass es mindestens eines theologischen Abschlusses bedarf, um die Bibel richtig zu verstehen. Abgesehen davon, dass besonders im evangelikalen Raum akademische Titel oft leicht zu erlangen sind und daher wenig über die tatsächliche Qualifikation eines Absolventen aussagen, mangelt es uns Christen nicht an Ausbildung, sondern an der Umsetzung des Wissens. Es muss erlaubt sein, sich zu fragen, ob akademische Titel nicht oft lediglich dazu dienen, sich mit einem vermeintlich höheren Wert oder einer höheren Bedeutung zu schmücken. Die Versuchung, mit menschlichen Mitteln menschliches Ansehen zu erlangen, ist auch für Christen gross. Wären wir wirklich überzeugt, dass allein die Anerkennung Gottes von bleibendem Wert ist, könnten wir gelassen auf menschliche Ankerkennung verzichten. Wenn wir jedoch daran zweifeln, bleibt uns nur der Stress, nach kurzer und vergänglicher menschlicher Ehre zu streben. Unseren Selbstwert müssen wir dann anhand unserer eigenen «Leistung» definieren und nicht an dem, was Christus für uns getan hat. Vor dem Richterstuhl des Christus werden wir wohl drei Überraschungen erleben: Menschen, die wir für bedeutend und angesehen halten, werden zu den Geringsten gehören. In unseren Augen Unbedeutende und Schwache werden zu den Hochgeachteten zählen (Mt 20,16). Am meisten überraschen aber könnten uns die Worte unseres Herrn: «Du bist ein treuer und guter Knecht. Geh ein in die Freude deines Herrn!»

Übrigens: Der schönste Titel für Christen ist in unserem Kulturkreis praktisch aus der Mode gekommen: Bruder, Schwester. Wir sind alle mit demselben Vater (Gott) und Lehrer (Christus) verwandt, gehören also zur selben Familie, sind Brüder und Schwestern. 

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