Ich begreife nicht!
Petrus ist müde. Die Hitze, die vergangenen turbulenten Tage und die vielen Predigtdienste setzen ihm zu. Er will nach einem anstrengenden Vormittag endlich etwas innere Ruhe finden; allein mit seinem Herrn sein. Bloss wohin soll er sich zurückziehen, um ungestört beten zu können? Die schlecht durchlüfteten Räume des Hauses seines Gastgebers würden ihn wahrscheinlich in den Schlaf treiben. Aber zum Glück gibt es ja noch das Flachdach mit seinem kühlen Baldachin. Petrus steigt kurzentschlossen aufs Dach, aber zum Beten kommt er trotz frischen Windes nicht. Der quälende Hunger kurz vor dem Mittagessen lenkt ihn zu sehr ab. Seine Gedanken schweifen um einen saftigen Rinderbraten mit frischem Gemüse und einem leckeren Früchtedessert. Aber was in aller Welt ist das?! Petrus zuckt zusammen. Vor ihm senkt sich auf einmal ein Tuch herab. Statt eines fein gedeckten Tisches sieht er plötzlich die ekelhaftesten Tiere vor sich. Das Tuch ist gefüllt mit allen möglichen Arten von krabbelnden Tieren, aber auch von Schlangen und Vögeln. Petrus ist furchtbar angewidert. „Iss“ ruft ihm eine Stimme zu. „Niemals werde ich davon essen! Da mag ich noch so hungrig sein, aber von diesen unreinen Tieren werde ich niemals kosten. Das habe ich noch nie in meinem Leben getan, und ich werde es auch nie tun“. Zum zweiten Mal ruft die Stimme: „Widersprich Gott nicht! Wenn er sagt, dass etwas rein ist, dann ist es auch rein!“ Dreimal wiederholt sich die Szene – und Petrus begreift nicht!
Du musst umdenken!
In diesem überzeugten Juden, der Christus finden durfte, will Gott ein Umdenken bewirken. Um ganze 180° muss sich der Mann, der einst zum engsten Kreis der Jünger Jesu gehörte, von seinen alten Strukturen und Vorstellungen lösen. Jesus überfordert ihn nicht. Er zwingt ihn nicht zu etwas, aber er bereitet ihn auf recht provokative Art und Weise auf den Paradigmenwechsel vor. Petrus soll etwas lernen, das er eigentlich gar nicht gewillt ist, zu lernen. Dabei ist dieser Mann doch geradezu privilegiert, alte Wege zu verlassen und neues Land zu erobern. Vor einigen Jahren hat er schon einmal einen Kurswechsel vollzogen. Damals hat er sein Leben auf den Kopf gestellt, die bisherige Denkweise verlassen und ist Jesus nachgefolgt. War das nicht Beweis genug, dass er eben nicht zu den unbeweglichen Köpfen seiner Nation gehörte?
Aber das ist schon einige Jahre her. Mittlerweile wird Petrus zu den alten Hasen gezählt; ist eine tragende Säule in der Kirche geworden; übernimmt Leitungsfunktion; kennt sich theologisch aus. Immerhin war er ja drei Jahre lang ein Schüler von Jesus. Nicht nur das. Seine Ausbildung hat sich gelohnt. Er ist ein begabter und dynamischer Prediger geworden. Gleich bei seiner ersten Predigt bekehren sich dreitausend Menschen zu Jesus Christus. Seither ist er dauernd unterwegs, reist von Stadt zu Stadt, predigt das Evangelium, heilt Kranke und erlebt Wunder um Wunder. Ausgerechnet dieser Mann, der jetzt andere lehrt, soll auf einmal selbst noch etwas Neues lernen? Er, der anderen Ratschläge erteilt, soll in einem wichtigen Punkt umdenken?
Jetzt erst habe ich verstanden!
Unten an der Tür klopft es. Drei Männer laden Petrus in das Haus des römischen Hauptmanns Kornelius ein, der in der Festungsstadt Cäsarea wohnt. Was soll er tun? Petrus befindet sich in einem Dilemma. „Herr, das kann ich nicht tun! Es ist doch einem Juden streng verboten, in das Haus eines Heiden zu gehen oder sich auch nur mit ihm zu treffen (Apg 10,28). Verlangst du hier nicht etwas Unmögliches?“
Wenn man das „Traditionsgebilde“ des Petrus etwas näher betrachtet, wird einem schnell klar, dass Gott hier praktisch eine zweite Lebenswende verlangt. Petrus konnte sich sehr wohl an das erinnern, was er zeitlebens gelehrt wurde. Er war noch nie ein Liberaler. Nein, er hält sich als stolzer Jude strikt an die Gesetze und Traditionen seines Volkes. Keine Frage, sie sind die von Gott erwählte und gesegnete Nation. Die Heiden aber sind ohne Bürgerrecht. Sicher, ein Heide konnte zwar als Proselyt in das Volk aufgenommen werden, aber ein wirklich echter Jude wurde man eigentlich nur durch Geburt. Immer wieder hat er in den Synagogen Sprüche gehört wie: „Gott hat die Heiden nur als Brennmaterial für die Hölle geschaffen“ oder „Wir sollen unsere Nächsten lieben, aber die Heiden sind nicht unsere Nächsten!“
Die Abgrenzung zu den Heiden ging bisweilen gar so weit, dass man es nicht gerne sah, einer Heidin bei der Geburt zu helfen, weil man dadurch nur wieder einen weiteren Heiden in die Welt setzte. Wenn ein Jude eine Heidin heiratete, hielt man eine Beerdigungszeremonie für ihn ab; für seine Verwandte war dieser Mann tot. Ein heidnisches Haus zu betreten, verunreinigte nach den jüdischen Gesetzen einen Juden. Die Barrieren zwischen Juden und Heiden waren absolut. Unmöglich war deshalb auch das Betreten des Tempels durch einen Heiden. Der sogenannte Hof für die Heiden wurde mit einem Zaun vom Tempel abgeriegelt. In regelmässigen Abständen hingen dort Inschriften in griechischer und lateinischer Sprache mit der Warnung: „Keine Person einer anderen Nation betrete den heiligen Raum hinter der Abschrankung, dem Zaun. Wer immer dies tut, macht sich des Todes schuldig!“
Natürlich bestand die Verachtung nicht nur auf jüdischer Seite. Cicero bemerkte dazu: „Die Griechen teilen alle Menschen in zwei Klassen ein: in die Griechen und in die Barbaren“. Die Barbaren galten als Menschen zweiter Klasse. Nur knappe dreissig Jahre nachdem Petrus seinen Besuch in Cäsarea abstattete, metzelten sich hier Juden und Syrer brutal nieder. Die Feindschaft zwischen Juden und Heiden war sehr tief.
Ja, Petrus hätte jeden Grund, sich zu weigern, ein heidnisches Haus zu betreten. „Ich kann und will das nicht!“ wäre eine berechtigte Antwort auf diese Lektion Gottes. Aber das Wunder geschieht: Petrus ist auch noch Jahre nach seiner Bekehrung bereit, umzudenken. Seine wahre Grösse zeichnet sich dadurch aus, dass er selbst als gestandener Christ noch sagen kann: „Jetzt erst habe ich richtig verstanden“ (Apg 10,34).
Gesinnungswandel mit Folgen!
Was bei Petrus möglich war, muss auch bei uns machbar sein. Sind nicht auch wir Christen prädestiniert, uns von festgefahrenen Wegen zu lösen? Wir haben genauso wie Petrus bei der Bekehrung radikal umdenken müssen. Christen erneuern ihren Geist und Sinn (Eph 4,23). Grundsätzlich ist die Bekehrung also ein tiefgreifender Gesinnungswandel. Aber ist damit der Erneuerungsprozess erledigt? Niemals! Erneuerung der Gesinnung muss fortlaufend geschehen! (2. Kor 4,16). Es gibt eine dauernde Weiterentwicklung der Gesinnung, die dazu führt, dass wir gemäss dem Willen Gottes entscheiden und leben (Röm 12,1-2). Gesinnungsänderung geschieht durch das Hinhören auf Gottes Reden und dem Gehorsam ihm gegenüber (Joh 17,17). Je intensiver unsere Beziehung zu Christus ist, desto mehr wird er unsere Gedanken einnehmen und unser Leben verändern – mit der Konsequenz, dass auf einmal falsche Ansichten wie ein Kartenhaus zusammenbrechen. Körperlich sind wir, was wir essen, aber geistlich sind wir, was wir denken! Deshalb ist es so wichtig für einen Christen, auf Gottes Wort zu hören und sich von ihm verändern zu lassen. Dies ist ein täglicher Prozess mit weitreichenden Folgen, denn wo sich die Gesinnung ändert, da ändern sich auch veraltete Strukturen, Traditionen und Formen. Gott schenke uns viele „Dachgebetserlebnisse“; ein sensibles Hinhören auf sein Reden, das uns aus verkrusteten Denkweisen lösen wird, uns flexibel für den Dienst im Reich Christi macht und uns bis zum letzten Atemzug in einer frischen Beziehung zu Christus hält. Denken wir daran: Es ist keine Schande auch noch nach vielen Jahren des Lebens mit Christus zu sagen: „Jetzt erst habe ich richtig verstanden“. Aber es ist tragisch, wenn wir zum Punkt kommen, wo wir meinen, schon alles begriffen zu haben und uns nicht mehr verändern lassen!