„Daddy, wo ist der Himmel?“ Gute Frage, dachte ich, als unser Ältester damals, als er noch ein Kind war, es genau wissen wollte. Als Lehrer für systematische Theologie sollte ich eigentlich die Antwort wissen. „Der Himmel befindet in einer für uns unsichtbaren Dimension. Doch eines Tages dürfen wir diese unsichtbare Realität sehen und erleben“, erkläre ich kompliziert und überhaupt nicht kindgerecht. Aber stimmt das? Ist es wahr, wenn Menschen behaupten, die Hölle sei hier auf Erden und der Himmel unendlich weit weg?
Als die Pharisäer Jesus fragten, wann das Reich Gottes anbreche, antwortete er ihnen: „Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man es beobachten könnte; auch wird man nicht sagen: Siehe hier! Oder: Siehe dort! Denn siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch“ (Lukas 17,20-21).
Mit dem Beginn seines Dienstes gründete Jesus das Reich Gottes und erfüllte damit die prophetischen Verheissungen des Alten Testaments. Und doch liegt die endgültige Vollendung, die neue Erde und der neue Himmel, noch in der Zukunft. Jesus verneint in seinen Predigten also keineswegs den Himmel als wirklichen und zukünftigen herrlichen Wohnort der Gläubigen. Aber Jesus bietet seinen Nachfolgern den unverzüglichen Eintritt in den Himmel im Hier und Jetzt an! Deutlich wird dies im Gespräch, das Jesus mit jenem jungen und reichen Mann führte, der unbedingt in den Himmel kommen wollte. In dieser Diskussion werden drei Begriffe erwähnt, die alle den sofortigen Eintritt ins Himmelreich bezeichnen: „ins Reich Gottes eintreten“; „gerettet werden“ und „ewiges Leben erben“. Wer gerettet ist, hat jetzt ewiges Leben und ist Himmelsbürger, erklärt Jesus (Lukas 18,18.24.26). Unser himmlisches Bürgerrecht ist nicht etwas, das wir erst nach unserem irdischen Ableben in Empfang nehmen dürfen. Nein, wir besitzen es schon jetzt! Für uns ist dies wahrer Grund zur Freude: „Freut euch aber, dass eure Namen im Himmel geschrieben sind!“ (Lukas 10,20). Der Heimatschein der Jünger Jesu ist längst im himmlischen Zivilstandsregister hinterlegt. Der Gläubige wird hier und jetzt Bürger des Himmelreichs. Paulus bestätigt dies mit den Worten: „Unser Bürgerrecht aber ist im Himmel; woher wir auch erwarten den Heiland, den Herrn Jesus Christus“ (Philipperbrief 3,20). Ähnlich schreibt er im Epheserbrief 2,5-6: „Auch uns, die wir in den Vergehungen tot waren, hat er mit dem Christus lebendig gemacht – durch Gnade seid ihr errettet! Er hat uns mitauferweckt und mitsitzen lassen in der Himmelswelt in Christus Jesus“. Paulus formuliert diesen Satz in der Vergangenheitsform. Er spricht von einer verwirklichten Realität. Obschon wir noch nicht Herrlichkeitsleiber besitzen, gehören wir dennoch zum Himmelreich, sitzen mit Jesus in seinem Reich!
Weil wir schon jetzt Himmelsbürger sind und Gott durch den Heiligen Geist in uns lebt, durchbricht der Himmel in gewisser Weise unsere normale Raum-Zeit-Dimension. Gemäss der Bibel ist das Reich Gottes mit allen Elementen der himmlischen Welt in der geistlichen Welt vorhanden, in welcher der Christ lebt. Dadurch wird der Himmel für jeden spürbar, sichtbar und erlebbar. So wie am ersten Weihnachtstag Gott den Himmel verlassen hat und in seinem Sohn Jesus Christus als Mensch sichtbar wurde, so wird der Himmel im Christen und in der Gemeinde Jesu erkennbar.
In seinem Brief an die Epheser schreibt der Apostel Paulus, dass Gott uns gesegnet hat „mit jeder geistlichen Segnung in der Himmelswelt in Christus (1,3). Mit diesem Satz beschreibt Paulus das Wirken des Heiligen Geistes, der uns den gesamten himmlischen Reichtum Gottes zugänglich macht. Christen sprechen manchmal fast geringschätzig vom „geistlichen Segen“ als etwas, das unsichtbar und nicht wirklich wahrnehmbar sei. Doch diese Vorstellung ist falsch. Der geistliche Segen der himmlischen Welt ist nicht wie ein zukünftiger Schatz für uns verborgen. Wir dürfen ihn schon jetzt geniessen. Was gehört dazu? Die Erlösung aus der Macht des Teufels, die Vergebung der Sünden, das neue Leben, das Verständnis von Gottes Wort, die Kraft, Gott zu gehorchen, der Zugang zu Gottes Gegenwart durchs Gebet und vieles, vieles mehr. So wäre als weiterer sichtbarer Beweis des angebrochenen Himmelreichs auch die Bewahrung vor dämonischen Mächten zu nennen. „Wenn ich aber durch den Geist Gottes die Dämonen austreibe, so ist also das Reich Gottes zu euch gekommen“ (Matthäus 12,28). Der Vater im Himmel hat uns jeden Segen des Geistes geschenkt. Alles, was wir für ein erfolgreiches und erfülltes Leben als Christ brauchen, steht uns zur Verfügung. Und alle Christen können es bestätigen: dieser Segen ist sichtbar, spürbar und erlebbar!
Paulus nennt dies alles „Segen in der Himmelswelt“ und zieht so die Verbindung zur ewigen Herrlichkeit Gottes. Damit bestätigt auch er: Die himmlische Welt durchdringt das Leben der Gläubigen so sehr, dass in jedem Christen etwas von der sonst unsichtbaren Welt sichtbar wird! Die zukünftige und ewige Welt dringt in die gegenwärtige und vergängliche Welt ein. Der Christ operiert daher ständig in zwei Bereichen, in der irdischen, sichtbaren und in der himmlischen, unsichtbaren Dimension. Konkret bedeutet dies: Wir leben zwar hier auf dieser Erde, aber unsere Kraft erhalten wir von der himmlischen Welt. Der Nutzen der kommenden Welt wird für den Gläubigen zu einer gegenwärtigen himmlischen Realität. Daher ist es auch logisch, dass die zukünftige Welt ständig in unserem Zentrum steht. „Sinnt auf das, was droben ist, nicht auf das, was auf der Erde ist! (Kolosser 3,2).
Ja, wir erwarten einen neuen Himmel und eine neue Erde, aber wir leben immer noch auf diesem alten Planeten. Unser Auftrag ist es, hier durch unser Leben und durch unsere Gemeinde ein Stück von der zukünftigen Herrlichkeit sichtbar zu machen. Das Himmelreich ist dort, wo Heiligkeit, Gemeinschaft mit Gott, Friede, Liebe und Vergebung in der Gemeinde Jesu ausgelebt werden. Christen besitzen neues Leben in sich, sie befinden sich unter der Herrschaft Gottes, sind Mitglieder einer neuen Familie, einer neuen Gemeinschaft geworden (1. Petrus 2,9). Der Gläubige hat das Reich der Finsternis verlassen und zum Reich des Lichts gewechselt (Kolosser 1,13). Das Reich Gottes ist in der Gemeinde Jesu angebrochen. Jetzt erkennt die sichtbare und unsichtbare Welt „an der Gemeinde die unendliche Weisheit Gottes“, schreibt Paulus (Epheser 3,10). Starke Worte, nicht wahr? Wo ist also Gottes Herrlichkeit sichtbar? Wo erleben wir ein Stück Himmel auf Erden? Nicht in einem wunderschönen Kirchengebäude mit Marmorsäulen, goldverzierten Altären und riesigen Fenstern aus Mosaikglas, sondern in ganz gewöhnlichen Menschen, die Jesus ihr Leben anvertraut haben. Für die Welt, die uns beobachtet, sind wir der Beweis, dass Gott lebt! Wir bilden die sichtbare Gestalt von dem, was und wie Gott ist! Jetzt verstehen wir auch Jesu Aussage: „Das Reich Gottes ist mitten unter euch.“ Hier, in der Gemeinde Jesu, unter den Christen, wird Gottes Herrlichkeit sichtbar. Aus diesem Grund nannte Martin Luther die Gemeinde Jesu die Maske Gottes. Die Welt könne die direkte Herrlichkeit nicht ertragen, meinte er. Deshalb habe Gott sich entschieden, seine Herrlichkeit in der Gemeinde zum Ausdruck zu bringen. Eine treffende Formulierung, die jene Verbindung zwischen Ewigkeit und Gegenwart deutlich macht. Christen sind in beiden Welten präsent und beide Bereiche sollten ständig in unserem Bewusstsein vorhanden sein. Wir brauchen unbedingt beides: den Blick nach oben (vertikal) und den Blick in die Welt (horizontal). Wenn wir den Blick nur noch auf diese Welt richten, verlieren wir den Himmel. Wenn wir aber nur noch verklärt himmelwärts blicken, taugen wir auf dieser Erde nicht mehr viel und verlieren das Herz für die Verlorenen dieser Welt.
Angesichts dieser biblischen Tatsachen müssten wir in unseren Gemeinden eigentlich ein Stück Himmel auf Erden haben. Aber manchmal trifft vielmehr das zu, was jemand so formulierte: „Mit den Heiligen da oben in Liebe zu wohnen, davon gibt es Herrliches zu berichten! Mit den Heiligen, die ich kenne, hier unten zu wohnen, – na ja, das sind andere Geschichten!“ Ja, es stimmt, oft geben wir leider ein sehr erbärmliches Bild von Gottes Herrlichkeit ab. Und dennoch: Wenn ich mein Neues Testament aufschlage und die Gemeinden in Ephesus, Thessalonich, Korinth, Galatien, Thyatira, Sardes usw. studiere, dann erfüllt mich grosse Hoffnung. Gott kam selbst mit den chaotischsten Gemeinden zurecht. Ihr unvollkommenes Zeugnis reichte, um wieder anderen Menschen etwas von dieser wunderbaren Herrlichkeit Gottes sichtbar zu machen. So lange schon reicht diese bruchstückhafte Maske Gottes aus, dass auch unsere Generation die unendliche Weisheit Gottes in ihr erkennen durfte. Und sie wird auch so lange Gottes Herrlichkeit reflektieren, bis Jesus wiederkommt und sein Reich vollendet. Dann werden wir ihm gleich sein und ihn sehen, wie er wirklich ist (1. Johannes 3,2).