Als junger Pfarrer wirkte Karl Barth, der wohl berühmteste Schweizer Theologe des letzten Jahrhunderts, von 1911 – 1921 in Safenwil und erlebte dabei eine handfeste Predigtkrise. Während seines Theologiestudiums zerlegten seine liberalen Professoren die Bibel bis ins Unkenntliche und liessen höchstens noch ein paar Knochen in Form von Moral übrig. Jetzt stand Barth Sonntag für Sonntag mit einem riesigen Wissen, aber einem Skelett der Bibel vor seiner mehrheitlich aus Bauern und Arbeitern bestehenden Gemeinde und fragte sich, ob er diesen lieben Leuten überhaupt etwas Brauchbares predigen konnte. „Hätten wir doch früher uns zur Bibel bekehrt, damit wir jetzt festen Grund unter den Füssen hätten!“, schrieb er verzweifelt seinem Freund Thurneysen. Für Barth war klar, dass die liberalen Theologen die Bibel missbrauchten, um ihre eigenen religiösen, moralischen und teilweise auch politischen Ansichten zu begründen. Gott kam dabei nicht zu Wort. Als Nazi-Christen in der deutschen Kultur und der Genialität des Führers eine allgemeine Offenbarung Gottes sahen, hielt Barth mit seiner spezifischen Offenbarungslehre dagegen und versuchte dem eigentlichen Reden Gottes wieder Raum zu schaffen. Er wünschte sich, dass die Predigtbesucher nicht einfach menschliche Weisheiten, persönliche Meinungen oder politische Pamphlete von ihren Pfarrern zu hören kriegten, sondern Gottes Wort. Deshalb stellte er mit seiner ausgeprägten „Wort-Gottes-Theologie” im Gegensatz zu seinen liberalen Lehrern wieder Gott in den Mittelpunkt von Theologie und Predigt. Sein Bibelverständnis wurde deshalb auch „Neu-Supernaturalismus“ oder „Neoorthodoxie“ genannt. Barth versuchte also, der liberalen Bibelauslegung ein Ende zu bereiten und die Einsichten der Reformatoren wiederherzustellen.
Das tönt zwar biblisch und schon fast evangelikal, ist aber letztlich nur der Versuch eines Mittelweges, der zwar als Umkehr angepriesen wurde, aber sicher nicht die Rückkehr zum Bekenntnis zur Wahrheit der Bibel bedeutete. Weshalb? Für Barth ist das eigentliche Wort Gottes nicht als eine innewohnende Qualität in der Bibel aufbewahrt. Es muss sich vielmehr jedes Mal beim Lesen oder Hören neu ereignen (man spricht deshalb auch von „Ereignistheologie“). Wenn also jemand die Bibel liest oder hört, dann kann es sein – muss aber nicht –, dass Gott dieser Person persönlich begegnet. In diesem Moment – und nur in diesem – kann jemand wahrhaftig sagen, dass die Bibel Gottes Wort ist. Wenn aber Gott seine Gegenwart beim Lesen und Hören der Bibel entzieht, dann bleibt sie das, was sie vorher war: Worte von Moses, Jeremia, Johannes oder wem auch immer. Wer immer das Lesen der Bibel mit dem Satz einleitet, „wir hören nun Gottes Wort“, macht sich gemäss Barth der Gotteslästerung schuldig, denn er masst sich an, Gott zu sagen, wann oder zu wem er zu sprechen habe. Gottes Reden ist für Barth ein Gnadenakt Gottes, der ausschliesslich von ihm ausgeht – womit er sicher richtig liegt. Doch Barth ist der Auffassung, dass Realität und Wahrheit nur dynamisch und persönlich sind und nicht gleichzeitig auch eine festgelegte Informationseinheit. Die Bibel ist daher keine autoritative, unfehlbare Schrift, die uns in objektiver Weise Gott offenbart – ganz egal, ob der Mensch darauf reagiert oder nicht! (siehe Joh 8,47; 12,48; 17,17; 1 Thess 2,13). Nur wenn die Texte der Bibel in einer göttlich-menschlichen Begegnung mein Herz treffen, werden sie durch meine persönliche Reaktion Gottes Wahrheit für mich. Durch diese subjektive Begegnung mit dem Wort Gottes wird die historische und wissenschaftliche Zuverlässigkeit der Bibel natürlich unwichtig. Barth leugnete deshalb die Unfehlbarkeit der Bibel und übernahm grösstenteils die Ergebnisse der Bibelkritik. Für die Neo-Orthodoxie ist es beispielsweise ziemlich belanglos, ob Wunder tatsächlich in Raum und Zeit geschehen sind, denn das Entscheidende ist nicht die historische Tatsache, sondern dass der Leser durch diese Wunderberichte persönlich angesprochen wird. Die Wunder werden in gewisser Weise für diejenigen wahr, die existenziell auf sie reagieren. Für Barth sind Theologie und Naturwissenschaft daher völlig unabhängige und unterschiedliche Disziplinen. Beide nähern sich der Realität auf unterschiedlichen Wegen. Die Konsequenz davon ist, dass Theologen und Naturwissenschaftler praktisch in zwei nicht miteinander kompatiblen Welten leben. Beide Disziplinen müssen mit ihren Begrenzungen und Widersprüchlichkeiten leben. Damit postuliert Barth einen verhängnisvollen Gegensatz zwischen Schöpfer und Schöpfung.