„Stückwerk ist unser Erkennen“ (1Korinther 13,9).
Ist die Bibel verständlich? Können wir mit Sicherheit wissen, was Gott uns sagen will? Oder ist am Ende doch alles nur eine Frage der persönlichen Auslegung? Zahlreiche Diskussionen über theologische und biblische Themen lassen vermuten, dass viele zu Letzterem tendieren. Oft enden Gespräche bei Meinungsverschiedenheiten abrupt mit dem Satz: „Unser Wissen ist begrenzt!“ Das scheint zu bedeuten, dass kein weiterer Austausch erwünscht ist, weil wir die Frage ohnehin nicht sicher beantworten können – oder dass beide Standpunkte irgendwie richtig sind, selbst wenn sie sich widersprechen.
Missbrauch von 1Korinther 13,9 und 12
Wenn Christen mittlerweile in fast allen Glaubensfragen mit der Aussage „Unser Erkennen ist Stückwerk“ beweisen wollen, dass wir Gottes Wort nur lückenhaft verstehen können, übersehen sie den Gesamtzusammenhang der Bibel. Tatsächlich offenbart sich in der Schrift das Gegenteil: Jesus verspricht seinen Nachfolgern, dass der Geist der Wahrheit sie in der ganzen Wahrheit leiten wird (Joh 16,13). Gleichzeitig bittet er den himmlischen Vater darum, dass sie in der Wahrheit geheiligt werden, denn Gottes Wort ist Wahrheit (Joh 17,17). Der Hinweis auf das stückweise Erkennen in 1Kor 13,9 und 12 bezieht sich nicht primär auf die Inhalte der Heiligen Schrift, die wir verstehen und bekennen können und sollen. Die Bibel beschreibt Gläubige als diejenigen, die „die Wahrheit erkannt haben“ (Hebr 10,26; 1Tim 2,4; 4,3; Tit 1,1; 2Tim 2,25; 2Joh 1) und die „der Lehre gehorsam“ sind (Röm 6,17). Für jene, die Christus vertrauen, sind „die Geheimnisse des Himmelreichs“ verständlich, während das, was Jesus lehrt, für andere rätselhaft bleibt (Mt 13,11). Oft wird argumentiert, dass mit der Wahrheit lediglich Jesus als Person gemeint sei. Doch die Erkenntnis der Wahrheit geht weit über das blosse Kennenlernen von Jesus hinaus. Wie können wir einem Christus vertrauen, wenn sein Wesen, seine Taten und seine Aussagen uns ständig unklar sind? Müssten wir uns nicht mit unseren eigenen Gedanken zufriedengeben, wenn wir Gottes Wort nicht wirklich verstehen könnten? Letztlich geht es um das, was Christus getan und gelehrt hat. „Lehrt sie alles zu befolgen, was ich euch geboten habe“, lautet sein Befehl (Mt 28,20). Die Apostel führten diesen Befehl aus und lehrten so, dass es vollständig verstanden werden konnte (2Kor 1,13).
Gottes Wort: verständlich und gewiss
Jesus tadelt Nikodemus dafür, dass er als Lehrer Israels nicht einmal die grundlegenden biblischen Wahrheiten versteht (Joh 3,10). Er entschuldigt ihn nicht mit einem “Kein Problem, dein Wissen ist halt Stückwerk!” Auch wirft er den Sadduzäern, die die Auferstehung bestreiten, vor, die heiligen Schriften nicht zu kennen (Mt 22,29). Während Petrus festhält, dass einige Passagen in den Schriften schwer zu verstehen sind (2Petr 3,16), impliziert “schwer” keineswegs “unmöglich”, und “einiges” ist nicht gleichbedeutend mit “alles”. Sowohl Nikodemus als auch die Sadduzäer hätten bei genauerer Untersuchung durchaus erkennen können, was ihnen entging.
Das Christentum ist eine Offenbarungsreligion. Durch die Gaben der Prophetie und Erkenntnis gewährte Gott ausgewählten Menschen Einblick in sein Wesen und seine Pläne. Das Mitgeteilte wurde in den Heiligen Schriften festgehalten. Doch Gott offenbart uns nicht alles – vieles bleibt verborgen. Was aber offenbar ist, gilt uns und unseren Kindern auf ewig, so dass wir nach allen Worten seiner Weisung handeln können (Dtn 29,28). Was praktiziert werden soll, muss verstanden werden!
Das bruchstückhafte Wissen bezieht sich auf das Verhältnis zwischen dem, was Gott den Christen in Korinth durch Propheten und Apostel offenbart hat und dem, was er verborgen hält. Doch was Gott in seinem Wort mitteilt, sind – gemäss Luther – “keine Zweifel oder subjektiven Ansichten, sondern verbindliche Aussagen, die sicherer und unerschütterlicher sind als das Leben selbst und alle Erfahrungen”.